Diese Geschichte handelt von einem Stoff, der widersprüchlicher kaum sein könnte. Allgegenwärtig, ja fast banal, und gleichsam von ungemeiner Bedeutung und symbolischer Strahlkraft. Er bildet die Grundlage allen Lebens auf diesem Planeten, und vermag es ebenso Zerstörungskräfte zu entfesseln, die ihres Gleichen suchen.
Obwohl es aus zwei der drei im Universum häufigsten Elemente besteht, ist reines, flüssiges Wasser doch ein ungemein kostbares Gut und Wasser hinsichtlich seiner physikalischen Eigenschaften geradezu ein Exot! Wasser ist ein kleines Molekül, das auf der Erde in festem, flüssigem und gasförmigem Zustand auftritt. Das ist bemerkenswert, da ähnlich kleine Moleküle unter erdähnlichen Bedingungen ausschließlich gasförmig in Erscheinung treten. Entscheidend darüber, ob ein Stoff als Gas, Flüssigkeit oder Feststoff auftritt sind vor allem Temperatur und Druck. Sinken die Temperaturen bei erdtypischem Druck unter 0°C, so ändern sich die Regeln des Zusammenspiels von Wasserteilchen dramatisch: Lässt sich der flüssige Zustand als wildes Umhertanzen der Moleküle verbildlichen, bei denen zusammenhängende Gruppen nur von kurzer Dauer sind, so muss der feste Zustand als Verharren in strammer Formation beschrieben werden.
Betrachten wir Schneeflocken etwas genauer, so fällt uns zunächst auf, dass sie allesamt von einer gewissen “Sechsfachheit” geprägt sind. Zu sagen sie wären sechseckig täte ihnen aber Unrecht, haben sie doch viel viel mehr Ecken. Um diese “Sechsfachheit” zu beschreiben, verwenden wir den Begriff Symmetrie, und meinen damit im Falle einer sechsfachen (Rotations-)Symmetrie der Schneeflocke, dass sie nach einer sechstel Drehung wieder gleich aussieht wie in ihrer Ausgangsposition. Diese Symmetrie einer ganzen Schneeflocke ist mit freiem Auge sichtbar, und dennoch manifestiert sich in ihr das Zusammenspiel einzelner Wassermoleküle, die gerade einmal ein fünftel eines Milliardstel Meters messen.
Diese sechsfache Symmetrie gibt das Muster vor, nach dem sich Schneeflocken theoretisch in nahezu unendlicher Formenvielfalt entfalten können. Je nach Druck und Temperatur finden Wassermoleküle in unterschiedlichen Formationen zusammen. Tatsächlich gibt es mehr als fünfzehn verschiedene Arten Eis, und sie alle unterscheiden sich durch ihre Molekülformationen. Die meisten dieser Eisarten werden allerdings nur unter besonderen Druckbedingungen oder bei besonderen Temperaturen gebildet. Schnee, und nahezu jede andere Form von Eis auf der Erde bestehen aus dem sogenannten Eis Ih, bei dem sich Wassermoleküle in sechseckigen Formationen zusammenfinden und so ein Kristallgitter bilden.
Anders als beim flüssigen Wasser, bei dem der Winkel zwischen den beiden Wasserstoffatomen 105° beträgt, wird die Struktur des Wassermoleküls im Kristallgitter des Eises um besser in die Formation zu passen etwas gestreckt, und der Winkel wird 109.5°. Darum brauchen Wassermoleküle im Eis auch mehr Platz als im flüssigen Zustand, und deshalb hat Eis auch eine höhere Dichte als flüssiges Wasser. Das Ausdehnen beim Abkühlen ist eine Eigenschaft, die man nur bei wenigen Stoffen findet, und wir verdanken ihr, dass Leben auf der Erde überhaupt möglich ist. Besäße Eis - wie üblich - eine geringere Dichte als Wasser im flüssigen Zustand, so würde es nicht schwimmen, und Gewässer würden von unten nach oben Zufrieren. Da Eis aber schwimmt, bildet Eis eine gute Isolationsschicht, und Wasserlebewesen können Kaltzeiten, sogar in der Antarktis, unter einer Eisschicht in flüssigem Wasser verbringen.
Ob sich nun Eis oder Schnee bildet ist nicht eine Frage des Kristallgitters sondern vielmehr abhängig von den Bedingugnen unter denen Wasser friert. Schneeflocken bilden sich aus kleinsten Tropfen untergekühlten Wassers. Wassertröpfchen, die keine Verunreinigungen beinhalten können bis weit unter den Gefrierpunkt (-18°C) gekühlt werden und noch flüssig bleiben. Sie vergessen es gewissermaßen zu frieren. Treffen sie allerdings auf ein Staubkorn geht alles ganz schnell: Das Staubkorn hilft den Wassermolekülen in die richtige Sechserformation zu finden. Ist die umliegende Luft voll mit kleinen Tröpfchen untergekühlten Wassers kann die Schneeflocke nun wachsen. Trillionen (eine Eins gefolgt von achtzehn Nullen, oder kurz 1018) von Wassermolekülen ordnen sich so schnell es geht in die Formation ein. Im Kristallgitter kann ein Wassermolekül sechs unterschiedliche Orientierungen annehmen. Da das Kristallisieren aus supergekühlten Wassertropfen besonders schnell von Statten geht, setzt sich jedes Wassermolekül an die am leichtesten zugängliche Position, und es bilden sich Strahlen aus, an deren Spitzen sich die Wassermoleküle am leichtesten einordnen können. Da es eine Frage des Zufalls ist, wo sich ein Wassermolekül gerade befindet, ist es auch der Zufall, der am Sechseckraster die Form festlegt. Aus kleinen Unterschieden am Anfang werden schließlich große. Die Schneeflocke beginnt zu fallen, wächst dabei aber immer weiter. Auf ihrer Reise zum Boden begegnet jede Schneeflocke unterschiedlichen atmosphärischen Bedingungen - mal trifft sie auf etwas mehr Wasser, mal ist es etwas wärmer, mal ist der Druck ein wenig höher. All diese Eigenschaften führen dazu, dass die Form einer Schneeflocke selbst letztlich eine kleine Symphonie ihres eigenen Daseins darstellt, die Druck und Temperatur in das Kristallgitter geschrieben haben.
So ist es auch kaum verwunderlich wenn man überall hört, dass jede Schneeflocke einzigartig ist! Denn verglichen mit der Anzahl an theoretisch möglichen Schneeflocken (eine Zahl, die sich nur schwer in Worte fassen lässt, und noch viel weniger einfach niederschreiben lässt, da sie etwa eine Trillion Ziffern hat; die Antwort ist im wahrsten Sinne astronomisch, sie übersteigt nämlich die Anzahl aller Atome im Universum. *) ist selbst die Zahl der Schneeflocken, die schätzungsweise in einem Jahr fallen, nämlich etwa eine Quadrillion ** (1024), winzig. Dennoch ist die Volksweisheit mit einer Prise Salz zu genießen: Für große Schneeflocken ist die Anzahl an möglichen Formen um ein Vielfaches größer als für kleine. Demensprechend ist es also auch wahrscheinlicher zwei kleine Schneeflocken zu finden, die sich gleichen.
Doch selbst diese kleine Abfuhr an eine romantische Idee soll dem Zauber der von Schneeflocken ausgeht keinen Abbruch tun. Die Vielfalt kleiner, unterschiedlich großer Flächen in mannigfaltiger Ausrichtung ist es, die dem Schnee jene besänftigende Eigenschaft verleiht, die eine frisch eingeschneite Landschaft mit jener Stille überzieht, die in so manchem Weihnachtslied besungen wird. Sie ist auch der Grund, warum Schneeflocken, die zu Millionen in einem gewöhnlichen Häufchen Schnee zusammenfinden in reinstem Weiß erstrahlen, obwohl jede Schneeflocke für sich genommen völlig durchsichtig ist. Schneeflocken und zu Eis kompaktierter Schnee reflektieren in ihrem Facettenreichtum weißes Licht nahezu völlig, und beeinflussen, wie gut unser Planet einfallendes Sonnenlicht reflektiert. Als Teil der sogenannten Albedo sind sie somit nicht nur Spielform des Klimas, sondern bestimmen dieses entscheidend mit. Mit dem Abschmelzen der Polkappen nimmt auch die Fähigkeit der Erde ab Sonnenlicht zu reflektieren und kühl zu bleiben…
Die Fabel vom Staubkorn, das zum Inbegriff von Reinheit wurde, ist ebenso reich an Facetten wie die Schneeflocke selbst; eine Reise von epischen Maßstab, die uns vom Tanz von nahezu unsichtbaren Partikeln bis zu Prozessen von globalen Maßstab brachte. Und sie endet mit einer bittersüßen Note: Trotz all der Schönheit die sie beinhaltet, dient diese Geschichte der Schneeflocke in all ihrer Komplexität und Fragilität schließlich auch als Mahnmal vor einer sich bedrohlich abzeichnenden Klimakatastrophe.
Weiterführende Literatur:
- Philip Ball - H2O Biografie des Wassers, 2001, ISBN: 3492041566
- Kenneth G. Libbrecht - snowcrystals.com Die Website zum Thema vom weltweit führenden Experten für Schneeflocken.
- Ryo Kobayashi “Modeling and numerical simulations of dendritic crystal growth." Physica D: Nonlinear Phenomena 63.3-4 (1993): 410-423. - Fachartikel der die Grundlage für unsere Simulationen von Schneeflockenwachstum bildet.
- Roberto Maffulli - iSeeing - Github Repository mit Python Code um unsere Simulationen nachzustellen
* Um die Anzahl der möglichen Schneeflockenformen abzuschätzen, können wir uns ein verrücktes Fahrradschloss vorstellen, bei dem es für jedes unserer Trillion Wassermoleküle in einer Schneeflocke ein eigenes Rädchen gibt. Auf jedem Rädchen sind die Zahlen eins bis sechs abgebildet und sie beschreiben welche Orientierung ein bestimmtes Wassermolekül hat. Nun müssen wir nur noch berechnen, wie viele verschiedene Kombinationen dieses Fahrradschloss hätte. Diese Zahl der Kombinationen versechsfacht sich mit jedem Rädchen unseres Fahrradschlosses. In unserem Fall versechsfacht sie sich eine Trillion mal (kurz: 61018).
** Pro Jahr fallen ca. eine Million Milliarden (1015 kg) Kilogramm Schnee. Bei einem Durchschnittsgewicht von etwa einem Milliardstel Kilogramm (10-9 kg), ergibt das grob geschätzt eine Quadrillion Schneeflocken im Jahr (1024).
Über die Autoren
Lukas Hutter studierte Chemie in Graz und Systembiologie in Oxford. Er ist einer der Mitbegründer von Biotop und arbeitet derzeit als Lehrer in Villach.
Roberto Maffulli ist Spezialist für Ströhmungslehre und arbeitet derzeit als Lektor am Balliol College der Universität Oxford.